9. Mai 2012

Mein Mann hat keine Seele mehr

Der Wecker klingelt. Nina öffnet die Augen und neben ihr liegt ihr Mann. Sein Gesicht schaut ganz friedlich aus, gesäumt von dunkelbraunen Haaren, die durchs Schlafen ganz strubbelig sind. Einige Falten sind um die Augen zu sehen, Lachfalten, die sie so sehr an ihm liebt. Er hat einen markanten Kiefer mit Bartstoppeln, die er sich direkt nach dem Aufstehen wieder abrasieren wird. Doch der Mann, der die ganze Nacht neben Nina im Bett lag, ist nicht ihr Ehemann - es ist sein Doppelgänger.
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Nina hat das Capgras-Syndrom.
Das Capgras-Syndrom wird zu den monothematischen Illusionen gezählt und besteht im Irrglauben, dass eine oder mehrere nahestehende Personen durch Doppelgänger ersetzt worden sind. Häufig tritt dieses Symptom als Begleitstörung von Demenz-Erkrankungen wie Alzheimer oder auch bei Störungen wie der Schizophrenie auf. Es kann jedoch auch als alleinstehende Störung bei Schlaganfällen, Hirnblutungen oder anderen Verletzungen des Gehirns entstehen.
Nina hat Angst vor dem Doppelgänger ihres Mannes. Er versucht sie immer wieder aufs Neue zu täuschen. Vieles spricht dafür, dass dieser Mann ihr Ehemann ist. Doch Nina weiß es - sie weiß einfach, dass dieser Mann, der ihrem geliebten Henning so ähnlich sieht, fremd ist. Sie fühlt nichts, wenn sie ihn sieht.
Fälschlicherweise wurde das Capgras-Syndrom lange mit der Prosopagnosie gleichgesetzt. Die Prosopagnosie ist die Unfähigkeit Gesichter bewusst zu erkennen. Ursache dafür ist die Verletzung eines Areals im Gehirn, welches für die Gesichtserkennung verantwortlich ist.
Beim Capgras-Syndrom kann das Gesicht einer nahestehenden Person bewusst erkannt werden, jedoch kann keine emotionale Bindung aufgebaut werden. Man könnte das Capgras-Syndrom somit als eine Art Schutzfunktion verstehen, die versucht, die Differenz von Gedächtnis und Empfinden auszugleichen.
An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie man die emotionale Bindung eines Menschen messen und somit auf wissenschaftliche Weise darstellen kann. Dies geschieht durch die Messung des Hautwiderstandes der sich bei einer emotionalen Reaktion, wie dem Sehen einer nahestehenden Person, verändert.
Nina wirft sich immer wieder vor, warum sie nach ihrem gemeinsamen Unfall Henning im Krankenhaus aus den Augen gelassen hat und sich um ihre eigenen Verletzungen gekümmert hat. Denn, als sie ihn nach ihren Untersuchungen endlich wiedersah, war er nicht mehr da. Dieser seelenlose Mann, der auch heute Morgen wieder neben ihr im Bett lag, stand unversehrt und lächelnd vor ihr. Nina ist davon überzeugt, dass Henning in dem Moment, in dem sie ihn vor einem Jahr aus den Augen gelassen hat, entführt und durch den Doppelgänger ersetzt worden sein muss.
Warum Nina das seltene Capgras-Syndrom nach ihrem Unfall vor ca. einem Jahr entwickelt hat, kann man heute noch nicht mit Sicherheit sagen.
Wissenschaftler der Neurologie haben sich in zwei Lager gespalten. Die eine Sichtweise unterstützt die Auffassung einer Verletzung bestimmter Hirnareale, die die Informationsweiterleitung von einem zum anderen Ort im Gehirn unterbrochen hat. Vertreter einer anderen These gehen davon aus, dass ein chemisches Ungleichgewicht dazu führt, dass die Verteilung der Neurotransmitter gestört ist.
Die Neugier, das Capgras-Syndrom zu ergründen, ist in jedem Fall geweckt und erste Schritte in Richtung einer Linderung werden geplant.
Bis dahin wird Nina jede Nacht zu Bett gehen und wissen, dass sie auch am nächsten Morgen wieder neben einem seelenlosen Mann im Körper ihres Hennings aufwachen wird.


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Quellen zum weiter-/nachlesen:
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/bb/07selten.html
http://sprott.physics.wisc.edu/pickover/pc/capgras.html

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